Aufführung | Theaterfassung des Fluchttagebuchs von Charlotte Teipel
Februar 1945 – ein Fluchttagebuch in Form eines Musik, Erzähl-, Schatten und Objekttheaters im Centre Culturel Français.
Henrietta Teipel beschreibt das Projekt:
Im Februar 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, musste Charlotte „Lotte“ Teipel, meine Urgroßtante, zusammen mit ihrer Schwester Hilde und deren Kindern Hannelore und Frank, die damals 1,5 und 3,5 Jahre alt waren, vor der anrückenden russischen Armee aus Königsberg in Preußen fliehen. In diesem Tagebuch, das Lotte nur ein Jahr nach ihrem Martyrium mit einer unglaublichen Gedächtnisgenauigkeit schrieb, beschreibt sie alle Grausamkeiten des längst verlorenen Kriegsendes, die man sich vorstellen kann: Hunger, Umherirren, Plünderungen, wiederholte Vergewaltigungen, Krankheit, Nahtoderfahrung…Eine fünfmonatige Irrfahrt durch die Neumark und Brandenburg, obwohl die Familie nur 120 km von Berlin entfernt war…
Meine Tante Hannelore machte sich während der Coronapandemie daran, das Original dieses Tagebuchs, das auf ihrem Dachboden schlief, von Sütterlin ins Hochdeutsch zu transkribieren. Heute liegt dieses Skript in meinen Händen und seine Kraft und Einfachheit, seine historische Realität, die Diskrepanz zwischen Geschichte und Geschichten, d. h. zwischen der allgemeinen Erzählung über diesen Krieg und das deutsche Volk einerseits und meiner persönlichen Familiengeschichte andererseits, veranlassen mich dazu, daraus ein Theaterstück auf Deutsch und Französisch zu machen, das für ein Publikum ab 12 Jahren zugänglich sein soll.
Heute möchte ich diese Geschichte erzählen, die auch in umgekehrter Richtung hätte passieren können (und auch passiert ist). Ich möchte zeigen, dass es nicht darum geht, woher wir kommen, sondern darum, „welchem Lager wir angehören“. Es sind unsere Handlungen, nicht die Etiketten, die Geschichte und Geschichten definieren und erzählen. Die das Täter-Opfer-Schema bestätigen oder
durchbrechen. In der Tat ist „Lotte“ austauschbar. Deutschland und Russland sind austauschbar. Aus diesem Grund wollte ich die gleiche Geschichte, das gleiche Szenario auch vor einem anderen politischen Hintergrund erzählen: Emma, eine junge Französin aus Nordfrankreich, muss 1940 vor der deutschen Armee fliehen. Sie erlebt genau dieselben Gräueltaten wie fünf Jahre später Lotte in Königsberg. Diese beiden Handlungsstränge, der von Lotte, der Deutschen, und der von Emma, der Französin, werden schematisiert, rufen dieselben Bilder hervor und sind miteinander verwoben. Emma und Lotte treffen sich auf einer temporären, nicht-linearen, vertikalen Achse außerhalb der historischen Möglichkeiten und werden eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Sie reichen sich die Hand!
Henrietta Theresa Teipel ist Schauspielerin und Sängerin. Ihre Ausbildung absolvierte sie an der „École de l’acteur et des arts de la scène de la Compagnie Maritime“ in Montpellier. Heute arbeitet sie zweisprachig in Frankreich und Deutschland, wobei sie seit 2019 bei Straßburg lebt und u.a. regelmäßig mit der deutsch-französischen Theatergruppe Theater Baden-Alsace arbeitet. Sie ist Gründungsmitglied der Oberrheintruppe und hat seit deren jungen Bestehen als Schauspielerin oder Regisseurin an allen ihren Kreationen mitgewirkt.
Mittwoch, 20. November | 19.00 Uhr
CCFF
Anmeldung: kultur@ccf-fr.de
Sprache: F/D
In Kooperation mit: Compagnie du Rhin Supérieur